Reichtum und Welthunger
Warum wird dieser "Massenmord" bei uns kaum wahrgenommen? Der Grund ist der Triumph der neoliberalen Ideologie. Es ist den Herrschern der großen Konzerne gelungen, die Sicht der Wirtschaft umzudeuten. Bisher wurde Wirtschaft als das Handeln von Menschen verstanden. Jetzt wird die Wirtschaft als "naturgesetzlich" ausgegeben. Der Kern des neoliberalen Credos lautet schlicht: Die Wirtschaft gehorcht "Naturgesetzen". Eine "unsichtbare Hand" reguliert den Weltmarkt und damit den gesamten Kapital-, Patent- und Dienstleistungsverkehr, und der Mensch besitzt keine Möglichkeit, in diesen Prozess nachhaltig einzugreifen. Aus dieser Sicht folgt, dass man auch gegen den Hunger kaum etwas unternehmen kann. Das Weltsozialprodukt ist seit dem Zusammenbruch des so genannten real existierenden Sozialismus um mehr als das Doppelte gestiegen. Der Welthandel hat sich verdreifacht. Der Energiekonsum verdoppelt sich alle vier Jahre. Der Planet quillt über vor Reichtum. Die Tragödie besteht darin, dass in dem Moment, da das gemeinsame Glück der Menschheit verwirklicht werden könnte, eine brutale Refeudalisierung des Planeten stattfindet. 500 multinational tätige Konzerne und Gesellschaften kontrollieren mehr als 52 Prozent des Weltsozialproduktes. Einerseits steigen der Reichtum sowie die politische und soziale Macht ganz Weniger ins Unermessliche. Andererseits wachsen der Hunger und die Leichenberge der Verhungerten in der Dritten Welt. Es wird oft argumentiert, dass klimatische Faktoren für die immer wiederkehrenden Hungerkatastrophen verantwortlich sind. In der südlichen Hemisphäre herrschen oft schwierige klimatische Verhältnisse. Aber das Problem liegt in den fehlenden finanziellen Mitteln, um diesen Katastrophen mit technischen Vorkehrungen oder anderen Strategien optimal zu begegnen. Nehmen Sie die Niger-Katastrophe, wo jede Woche hunderte, manchmal sogar tausende Menschen auf Grund der furchtbaren Dürre und der Heuschreckenplage sterben. Hier stellt sich das Problem der Bewässerung. Niger ist ein Sahel- und Saharaland von 1,1 Millionen Quadratkilometern, das im Süden auf einer Länge von 550 Kilometern vom Niger durchquert wird. Von der nigerischen Regierung gibt es seit zwölf Jahren einen Plan zur Bewässerung von 420.000 Hektar. Doch um dieses Projekt zu realisieren, fehlt das Geld. Wenn es realisiert werden könnte, wäre es möglich, auf diesen 420.000 Hektar drei Hirseernten pro Jahr zu erhalten. Damit wäre die Nahrungssicherheit für den aktuellen Bedarf sowie die Schaffung einer Reserve für Notfälle gewährleistet. Korruption ist zweifellos ein schweres und weit verbreitetes Übel in der dritten Welt. Aber sie wird von vielen westlichen Großbanken und Konzernen zur Durchsetzung bestimmter politischer oder wirtschaftlicher Ziele nach Kräften gefördert, wenn es darum geht, Politiker "anzuleiten". Hauptverantwortlich für den Fall in den Abgrund sind die Konzerne, die Afrika lediglich als einen "Beutekontinent" betrachten. Neben den weltweit operierenden 500 Großkonzernen sind nach der UNO-Statistik weitere 85.000 so genannte multinationale Gesellschaften tätig, die direkt mit der Ausbeutung der Rohstoffe Afrikas befasst sind. Unter den Schlägen von Nestlé, Unilever und anderer multinationaler Konzerne sind ganze Rohstoff-Märkte zusammengebrochen. Die südäthiopischen Kaffeebauern haben ihre Existenzgrundlage verloren, weil der Preis für ein Pfund grüner Bohnen beim Produzenten, der 2001 noch 1,20 Dollar betrug, 2003 auf 30 Cents gesunken war. Damit lag der Preis weit unter den Herstellungskosten und den Lebenskosten einer Familie. Auf der Welt gibt es 25 Millionen Produzenten von Kaffeebohnen in Brasilien, Kolumbien, Vietnam, Ruanda, Äthiopien - die meisten werden als Familienbetriebe geführt. Der Nestléchef für Landwirtschaft, Hans Joehr, erklärt, ohne mit der Wimper zu zucken: zehn Millionen Produzenten müssten aus dem Markt verschwinden. Was heißt das, "verschwinden"? Das heißt, zehn Millionen Männer, Frauen und Kinder würden um ihre ohnehin minimale Lebensgrundlage gebracht mit der Folge von dauerhafter Arbeitslosigkeit für die Erwachsenen, einem Ansteigen der Kinderprostitution und dem »stillen Hungertod« durch permanente Unterernährung. Nestlé als größter Nahrungsmittelkonzern der Welt hat fast 300.000 Mitarbeiter, ist in 81 Ländern auf fünf Kontinenten präsent, kontrolliert über 8000 Marken und erzielte 2004 einen Gewinn von 6,5 Milliarden Euro. Das war selbstverständlich nur möglich mittels einer Konzernpolitik, die vielerorts den ärmsten Bewohnern der Erde ihre Existenzgrundlage entzog oder sie in Abhängigkeit zwang. Um dem Hunger auf der Welt zu begegnen, müsste vor allem einmal die Nahrungsmittelbörse von Chicago geschlossen werden. In den Wirtschaftsteilen der großen Zeitungen können Sie die Kursentwicklungen aller Nahrungsmittel der Welt von den verschiedensten Getreidearten über Reis bis zu den schwarzen Bohnen verfolgen. Diese Nahrungsmittel werden spekulativ, unter anderem via Termingeschäften, an der Börse gehandelt. Das muss unterbunden werden. Nahrungsmittel sind öffentliche Güter und keine Ware wie jede andere. Sie dürfen nicht privaten Spekulationen unterworfen werden. Vielmehr müssen ihre Preise international vertraglich festgesetzt werden. Warum ist der Weltmarkt für die Ernährung in armen Ländern so bedeutsam? In 37 Staaten Afrikas reicht die interne Ernte an Hirse, Reis und Getreide in den meisten Jahren nicht aus, um die nächste Ernte zu erreichen. Nehmen Sie zum Beispiel Sambia, dessen Grundnahrungsmittel Mais ist. Wenn der Mais-Preis spekulativ hoch ist, weil irgendeine multinationale Gesellschaft auf steigende Kurse spekuliert hat, dann hat die sambische Regierung nicht die materielle Möglichkeit, genügend Tonnenladungen Mais einzukaufen, und tausende von Kinder sterben den Hungertod. Welche Folgen hat die europäische Agrarpolitik? In Dakar, der Hauptstadt des größten westafrikanischen Landes, wird an den Marktständen portugiesisches, spanisches, französisches, italienisches Obst und Gemüse für weniger als ein Drittel des Preises angeboten, der für senegalesische Erzeugnisse gefordert wird, für die die einheimischen Bauern 16 Stunden am Tag unter brennender Sonne gearbeitet haben. Die Industrienationen haben 2004 rund 349 Milliarden Dollar an Produktions- und Exportsubventionen an ihre Bauern bezahlt fast eine Milliarde Dollar pro Tag. Von den 52 Staaten Afrikas sind 41 fast reine Agrarstaaten. Deren Landwirtschaft wird durch das europäische Dumping radikal zerstört. Das müsste sofort ge- stoppt werden, damit die Landwirtschaften dieser Staaten sich autonom entwickeln und ihre Produzenten und Bevölkerungen ernähren können. Ist die Welt überbevölkert? Der World Food Report der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO informiert uns, dass die Weltlandwirtschaft beim heutigen Produktionsstand prob- lemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also das Doppelte der jetzt existierenden Menschheit. Das heißt, es gibt überhaupt keine Fatalität. Der Planet ist absolut nicht übervölkert. Es kommt auch dem Problem der Verteilung eine enorme Bedeutung zu. Das gilt nicht nur für Nahrungsmittel, sondern auch für Medikamente. Nach einer Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation befanden sich unter den 1393 neuen Medikamenten, die in den 25 Jahren von 1975 bis 2000 auf den Markt kamen, nur 16 gegen Tropenkrankheiten. Die Pharmaindustrie orientierte sich also in ihrer Forschung konsequent an der Kaufkraft ihrer Klientel. In der Praxis heißt das, dass drei Viertel der Menschheit von den Wohltaten der Forschung von vornherein ausgeschlossen sind. 50 Millionen Menschen wurden 2004 vom Denguefieber getötet dagegen gibt es kein Medikament. Alle 30 Sekunden stirbt ein Kind an Malaria. Gro Harlem Brundtland, die ehemalige Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation, sagte einmal, es sei ein großes Unglück, dass die Malaria nicht in New York wüte. Bei Franz Kafka findet sich der seltsame Satz: "Weit, weit weg von dir geschieht die Geschichte der Welt, die Weltgeschichte deiner Seele." Das heißt, die Schande, die einem Menschen irgendwo auf der Welt angetan wird, die Verletzung oder Zerstörung seiner Menschlichkeit, ist zugleich die Verletzung oder Zerstörung der Menschlichkeit in mir. Es gibt kein Glück, für keinen unter uns, nicht einmal politische Stabilität, solange wir diese Verletzung und Zerstörung der Menschlichkeit zulassen. Natürlich sind die europäischen Kriegsflotten oder Armeen im Stande, die Festung Europa gegen die Skelette aus Afrika zu schützen, selbst wenn sie zu hunderttausenden an unsere Grenzen zu kommen versuchen. Europa kann sich ihrer mit Gewalt erwehren. Das wird jedoch in ganz kurzer Zeit unsere eigenen Werte innerhalb unserer Festung zerstören. Die Vereinigten Staaten haben bis jetzt über 250 Milliarden Dollar nur für ihr Irak-Abenteuer ausgegeben, während es doch politisch und moralisch geboten wäre, einen entschiedenen Krieg gegen den Hunger in der Welt zu führen. Das ändert natürlich nichts daran, dass es für keine Art von Terrorismus eine politische, ideologische oder religiöse Entschuldigung gibt. Aber um dem Individual- und Gruppenterror wirksam zu begegnen, bedarf es keiner Militärmaschinerie, keines Einsatzes von immer neuen Waffensystemen. Im ersten Stock des Gebäudes der Vereinten Nationen in New York, wo der Sicherheitsrat residiert, wird aufgelistet, wie viel es kosten würde, um die 36 Millionen aidsinfizierten Menschen mit entsprechenden Therapien zu versorgen, Impfkampagnen gegen die fünf größten Epidemien in der Dritten Welt durchzusetzen, die 22 Millionen Flüchtlinge in der Welt menschenwürdig zu versorgen, die Ausbreitung der Wüsten zu bekämpfen und die Biodiversität zu erhalten. All dies wäre schon mit einem Teil der weltweiten Rüstungsausgaben von derzeit rund 960 Milliarden US-Dollar finanzierbar. Wie können wir mit unserer Stimme die Weltwirtschaft beeinflussen? Nehmen wir das Problem der Verschuldung. Der Weltwährungsfonds, der die Schuldknechtschaft der Länder der Dritten Welt verwaltet, wird von einem Gouverneursrat geleitet, in dem die Finanzminister der Industriestaaten das Sagen haben. Diese können wir mit unserer Stimme bei Wahlen zwingen, für dieses oder jenes Schuldenmoratorium zu stimmen, damit in diesem oder jenem Land dringend notwendige Reformen durchgeführt werden. Es ist nicht einfach, aber die Demokratie gibt uns allen die Möglichkeit, aufzustehen und unseren moralischen Imperativ zu formulieren. Nach den "Millenniumszielen zur Armutsbekämpfung" soll die Zahl der Hungernden bis 2015 halbiert und allen Kindern eine Grundbildung garantiert werden. Dass diese Ziele formuliert worden sind, betrachte ich schon als einen großen Fortschritt gegenüber der Zeit vor 20 Jahren, als der Hunger auf der weltpolitischen Ebene nicht einmal zur Sprache kam. Nach dem Philosophen Max Horkheimer gibt es eine doppelte Geschichte: Es gibt die Geschichte der tatsächlich existierenden Gerechtigkeit, die eine tragische Geschichte ist. Denn das Elend, die Ungerechtigkeit und die Unterdrückung der Menschen waren nie größer als heute. Aber es gibt auch die Geschichte unter der Geschichte: die Eschatologie. Das ist die Geschichte der vom Bewusstsein einforderbaren Rechte. Horkheimer nannte es das "vorgelagerte Bewusstsein", das noch nicht konkrete alltägliche Politik geworden ist, aber eben dies einfordert. In dieser Richtung haben wir große Fortschritte erzielt. Aber wird das Ziel einer Halbierung des Hungers in der Welt bis 2015 erreicht werden können? Nach den gegenwärtigen Zahlen gehen wir sogar in die entgegengesetzte Richtung. 2004 waren 856 Millionen Menschen von schwerer permanenter Unterernährung betroffen, während es im Jahr 2003 noch 842 Millionen waren. Insofern sind die Ziele nicht realistisch. Sozialromantik, wie manche ihrer Kritiker leichtfertig behaupten, sind sie aber fürwahr auch nicht. Was gibt Anlass zu Hoffnungen? Die neue planetarische Zivilgesellschaft mit der Attac-Bewegung, der Greenpeace-Bewegung und anderen Gruppierungen beweist mir, dass meine Hoffnung gut begründet ist. Die 300.000 weltweit agierenden Nichtregierungsorganisationen sind eine neue politische Macht, mit der die etablierten Parteien schon jetzt rechnen müssen. Sie mobilisieren viel tiefer und viel massiver als die traditionellen politischen Parteien oder die Gewerkschaften. Inzwischen hat sich mit großer Sachkenntnis und starkem Engagement eine ganze Reihe von Widerstandsfronten gegen den Raubtierkapitalismus etabliert, die alle vom moralischen Imperativ getragen werden. Jean Ziegler lehrte Soziologie an den Universitäten von Paris und Genf. Der 72-Jährige ist seit 2001 Sonderberichterstatter der UNO-Menschenrechtskommission für das Recht auf Nahrung. Er ist der Autor des Buchs "Das Imperium der Schande".
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