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Argumente für eine Alternative zur neoliberalen "Eine-Welt-Politik"

1. Einleitung

Viele Vertreter von Unternehmen und Wissenschaft behaupten im Einklang mit neoliberalen Positionen seit vielen Jahren einen grundlegenden Konflikt zwischen wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gerechtigkeit. Sie postulieren sogar eine trade off-Beziehung in dem Sinn, dass durch Entlastung der Unternehmen ­ vor allem durch zurückhaltende Lohnerhöhungen und Spreizung des Lohnniveaus sowie durch Steuersenkung, Sozialabbau und Deregulierung - ein Mehr an Beschäftigung und Wachstum zu erzeugen ist. Der unausweichliche "Preis" einer steileren bzw. ungleicheren Verteilung von Einkommen und Vermögen wird mit einer darauf folgenden Expansion des gesamten Wohlstands als "Gegenleistung" für alle gerechtfertigt. Selbst bisher erwerbslosen Armen werde dadurch eine, wenn auch überwiegend gering entlohnte, Arbeit ermöglicht. Nicht zuletzt aus beschäftigungspolitischen Gründen müsse man insbesondere das sozialstaatliche "Modell Europa" mit seinen überbordenden sozialen und gewerkschaftlichen Ansprüchen an die Wirtschaft sowie seinem umverteilenden Staat aufgeben zugunsten eines neoliberalen Modells, wie es in den USA verwirklicht sei. In Europa habe das sozialstaatliche Modell eher "Eurosklerose" zum Nachteil von Wirtschaft und Beschäftigung erzeugt. In den USA dagegen seien die oben genannten neoliberalen Wirkungsmechanismen belegt und mit einem Beschäftigungswunder in den 90er Jahren "gekrönt" (so z.B. Berthold/Fehn 1996, Grömling 2001). Und tatsächlich haben sich öffentliche Meinung, Parteien und Politik nicht nur in Europa von solchen Argumenten mehr oder weniger beeindrucken und bewegen lassen, den behaupteten trade off zu versuchen und durch Abbau von Sozialstaatlichkeit und staatlichen Regularien mehr ökonomische Effizienz einzutauschen. Dieser Prozess hat z.B. in Europa ­ mit unterschiedlichem Ausmass in den einzelnen Ländern ­ schon in den 80er Jahren eingesetzt und ist in den 90er Jahren beschleunigt worden, u.a. durch seine Implementation auch auf der supranationalen Ebene der Europäischen Union. Dabei haben die neoliberalen Politikelemente ­ die meist als "Reformen" von "Verkrustungen" ausgegeben wurden ­ das sozialstaatliche Modell Europa (noch) nicht grundlegend, aber doch teilweise erheblich geändert. Und sie haben inzwischen auch Wirkung gezeigt. Aber sind es die erhofften bzw. versprochenen Wirkungen?

Die inzwischen überschaubaren internationalen Erfahrungen mit den Wirkungen neoliberaler Politikmuster machen die zugrunde liegenden Argumente, insbesondere die verteilungspolitischen, umso fragwürdiger, je genauer man in die nationale und internationale Empirie einsteigt. Die Erfahrungen drehen das öffentlich verbreitete Bild von "erfolgreichen" und "erfolglosen" Ländern bzw. "Modellen" geradezu um. Denn beispielsweise in Deutschland hat schon lange vor der deutschen Vereinigung eine Senkung der Lohnkosten sowie eine Spreizung der Lohneinkommen in erheblichem Ausmaß eingesetzt. Gleichzeitig sind Gewinn- und Vermögenseinkommen im Rahmen des Volkseinkommens erheblich gestiegen und haben ­ verstärkt durch die staatliche Umverteilungspolitik zugunsten von Unternehmen und Vermögenden ­ zu einer Polarisierung der Einkommensentwicklung geführt. Diese Polarisierung kann man auf verschiedenen Ebenen belegen: bei der "funktionalen" Verteilung der Markteinkommen einschließlich ihrer Steuer- und Abgabenbelastung sowie bei der "personellen" Verteilung der verfügbaren Einkommen in den privaten Haushalten. Doch trotz der immer besser gefüllten Kassen von Unternehmen und Selbständigen sind die versprochenen beschäftigungspolitischen Erfolge zur Entlastung des deutschen Arbeitsmarktes nicht eingetreten. Statt dessen sind aber inzwischen ökonomische - und nicht nur soziale - Schäden angerichtet worden. Diese könnten ohne Korrektur der zugrunde liegenden neoliberalen Politikmuster in Zukunft tatsächlich z.B. jene deutsche "Wettbewerbskrise" auf dem Weltmarkt erzeugen, die heute angesichts der immer noch anhaltenden deutschen Exporterfolge eine reine Interessenbehauptung ist. Die Kosten-Nutzen-Bilanz einer solchen Verteilungspolitik stimmt aber auch für andere Länder in der ersten wie in der dritten Welt nicht. Selbst für die USA ist sie ­ siehe weiter unten ­ negativ, weil z.B. sowohl das Ausmaß wie die angeblichen verteilungspolitischen Gründe des sogenannten Beschäftigungswunders ein Mythos sind. öffentlichkeit und Politik sind wegen dieser empirischen Erfahrungen über die Ergebnisse neoliberaler Politik durchaus irritiert; und zunehmend kommen Zweifel an neoliberalen Positionen auf. Das gilt selbst für internationale Organisationen wie den IWF oder die Weltbank (so Goldberg 2001). Aber es fällt der Politik wie der öffentlichkeit schwer, aus den empirischen Erfahrungen eine andere, antipodische Maxime für wirtschaftspolitisches Handeln zu akzeptieren: Ausreichend hohe Löhne, gerecht verteilte Steuerlasten und eine generell relativ flache Einkommenshierarchie stehen in einem komplementären Verhältnis zu Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und anderen ökonomischen Entwicklungen eines Landes. In diesem Beitrag werden die entsprechenden Erfahrungen berichtet, die mehr als nur eine Abkehr von neoliberalen Politikmustern begründen. Sie werden hier am europäischen Beispiel, insbesondere dem deutschen Fall, sowie an den USA dargestellt; im Mittelpunkt stehen charakteristische verteilungspolitische Strukturen und deren soziale wie ökonomische Wirkungen.1 Das neue verteilungspolitische "Paradigma" gilt übrigens nicht nur für Europa, sondern auch für andere Länder einschließlich der dritten Welt. Es erhebt zwar nicht den selben Anspruch wie die neoliberale "Eine-Welt-Politik"; aber es empfiehlt sich als Grundstruktur für Wirtschaft und Gesellschaft überall, um auf dieser Basis gerade auch nationale Eigenständigkeiten besser ausschöpfen zu können.

2. Verteilungswirkungen in Deutschland

In Deutschland hat die von Neoliberalen geforderte Verstärkung von Ungleichheiten bereits vor längerer Zeit eingesetzt ­ und zwar in mehreren Formen auf unterschiedlichen Ebenen: Seit vielen Jahren ist die absolute Zahl der Vollzeitstellen (in Westdeutschland) nahezu konstant geblieben, während der Zuwachs an neuen Stellen fast ausschließlich in "prekären" Jobs besteht. Durch sie ist eine zunehmende "reale" Spreizung eingetreten zwischen den Arbeitsbedingungen von Teilzeit, geringfügiger Beschäftigung usw., die fast immer ein gegenwärtig und zukünftig geringes sowie häufig auch instabiles Arbeitseinkommen bedeuten, - im Gegensatz zu den sogenannten Normalarbeitsverhältnissen, die im wesentlichen durch eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung mit entsprechenden Absicherungen und relativ ausreichendem Einkommen charakterisiert sind. Auch sozialversicherungspflichtige Teilzeit ist prekär, wenn sie viele Jahre oder sogar "arbeitslebenlang" praktiziert wird, weil davon meist mehr als eine Person kaum ernährt und auch diese Person nicht fürs Alter gesichert werden kann. Solche prekären Jobs machen heute rund ein Drittel aller abhängigen Beschäftigungsverhältnisse aus, während sie vor 30 Jahren gerade einen Anteil von 15% stellten. Die Nachteile der in solchen Beschäftigungsverhältnissen befindlichen Arbeitnehmer sind jedoch meist die Vorteile ihrer Arbeitgeber, also vor allem geringere Arbeitskosten und höhere Arbeitsflexibilität ­ zumal die allermeisten dieser Jobs von der regulierenden Tarifpolitik der Gewerkschaften nicht erreicht werden und häufig auch gesetzlich wenig reguliert sind.

Daneben haben sich mehrere Formen der "monetären" Spreizung von Arbeitseinkommen entwickelt, die im wesentlichen die Normalarbeitsverhältnisse und damit auch den Bereich der intensiv tarifpolitisch und gesetzlich regulierten Jobs betreffen: Zunächst hat in den 90er Jahren die gewerkschaftliche Tarifpolitik den sogenannten Verteilungsspielraum ­ definiert durch Inflations- und Produktivitätswachstum ­ nicht ausgeschöpft, so dass sich der Reallohn in dieser Zeit nur wenig erhöht hat. Diese Lohnzurückhaltung in einem Ausmaß von fast 10 % (Tabelle 1) ist umgekehrt der Ertragssituation der Unternehmen zugute gekommen. Aber auch innerhalb der Arbeitseinkommen von Normalarbeitsverhältnissen hat sich eine beträchtliche "allgemeine" Spreizung entwickelt.2 In Tabelle 2 sind die Vollzeiteinkommen nach Vielfachen bzw. Bruchteilen des durchschnittlichen Arbeitseinkommens aller Vollzeitbeschäftigten für den Zeitraum 1975 bis 1997 in Westdeutschland geschichtet. Abzulesen ist dort für die drei Hauptgruppen von Vollzeitbeschäftigten und ihre Arbeitseinkommen ein zwischenzeitlicher Umbau der Einkommenspyramide: Die Gruppe der Vollzeitbeschäftigten mit einem Arbeitseinkommen bis zu 75% des Durchschnitts, die 1975 noch einen Anteil von rund 30% an allen Vollzeitbeschäftigten ausmachte, stellt zuletzt schon knapp 36%. Die Gruppenstärke des sogenannten Arbeitsmittelstands mit individuellen Einkommen zwischen 75 und 125% des Durchschnitts ist von gut 56% auf rund 48% gesunken. Und die Besetzung der Gruppe mit "oberen Arbeitseinkommen" über 125% des Durchschnitts hat spürbar von 14% auf fast 17% zugenommen. Mit anderen Worten: die Einkommensmitte ist ausgedünnt, während die Einkommensränder "unten" und "oben" gestärkt und so Polarisierungen innerhalb der Lohneinkommen erzeugt wurden.

Besonders problematisch ist die feststellbare Spreizung im unteren Bereich, weil sie eine für Westdeutschland früher kaum für möglich gehaltene Erscheinung belegt: Armut in der Arbeit (working poor) bzw. noch treffender: Armut trotz Vollzeitarbeit, wenn man den in Wissenschaft und Politik inzwischen vielfach üblichen relativen Einkommensbegriff übernimmt, nach dem ein Unterschreiten des Arbeitseinkommens von 50% des durchschnittlichen Einkommens Armut signalisiert. Danach hat es in Westdeutschland 1975 schon 10,5% oder fast 2,0 Millionen working poor im Normalarbeitsverhältnis gegeben, 1997 waren es 11,5 % bzw. 2,2 Millionen Personen. Zudem ballen sich die Einkommen dieser Gruppe nicht etwa knapp unterhalb der 50%-Grenze, sondern verteilen sich darunter auf einen relativ weiten Bereich bis hin zu unter 20% des Durchschnittseinkommens (im Detail Schäfer 2000 b). Im übrigen entstammen fast zwei Drittel dieser working poor den verschiedenen Dienstleistungssektoren und lassen deshalb auch fragen, weshalb trotz der dort offenbar besonders gespreizten Löhne kein entsprechendes "Beschäftigungs-Wunder" eingetreten ist.

Ein besonders drastisches Beispiel für eine beschäftigungspolitisch erfolglose Niedriglohnpolitik ist der "Niedriglohn-Sektor" Ostdeutschland ("regionale Spreizung"). In ihm sind - entgegen einer weitverbreiteten These über die angeblich schnelle Anpassungspolitik der gewerkschaftlichen Tarifpolitik ­ die Effektivlöhne mit rund 68 % des westdeutschen Durchschnittslohnniveaus noch weit zurück und "helfen" trotzdem beim Aufbau neuer Beschäftigungsverhältnisse nichts. Gerade in der ostdeutschen Industrie beträgt der Lohnrückstand immer noch 40 % im Schnitt, ohne dass die Industriebeschäftigung wächst oder die internationale Wettbewerbsfähigkeit ostdeutscher Industrieproduktion steigt. Alle diese Entwicklungen auf der Ebene der abhängigen Beschäftigung haben Arbeit in Deutschland relativ billiger gemacht und gleichzeitig ­ wie von neoliberaler Seite gefordert ­ die Einkommen aus Gewinnen und Kapitalvermögen gestärkt. Diese ungleichen Prozesse auf der Ebene der Markteinkommen oder der Bruttoeinkommen sind aber zusätzlich durch die öffentliche Umverteilungspolitik noch verstärkt worden. Die Belastungen der Lohneinkommen mit direkten Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen haben relativ zugenommen, die Abgabenbelastung der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen hat relativ abgenommen. Auf der Netto-Ebene nach der öffentlichen Umverteilung klafft deshalb die Entwicklung zwischen den moderat gewachsenen Lohneinkommen einerseits sowie den kräftig gestiegenen Einkommen aus Gewinn und Vermögen andererseits noch weiter auseinander. Das gilt für die Betrachtung der jeweiligen funktionalen Einkommenssummen für Arbeit und "Kapital", wie man sie etwa aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen im Rahmen des verfügbaren Volkseinkommens ablesen kann. Das gilt aber auch für die personelle Verteilung dieser Summen auf die privaten Haushalte, die nach wie vor weit überwiegend entweder nur Lohneinkommen oder nur Kapitaleinkommen beziehen. In Tabelle 3 ist für die gesamtwirtschaftliche Ebene bzw. für die funktionale Verteilung die Entwicklung von Netto-Lohnquote und Netto-Gewinnquote im Rahmen des verfügbaren privaten Volkseinkommens dargestellt (wobei Gewinn hier die Summe aus den Erfolgen unternehmerischer Tätigkeit und aus dem erzielten Zinseinkommen von Kapitaleinsatz meint). Die Zahlen machen deutlich, dass die Nettolohnquote erheblich an volkswirtschaftlicher Bedeutung verloren hat. Machte sie 1980 mit rund 53 vH noch über die Hälfte des verfügbaren Volkseinkommens aus, so beträgt sie heute nur noch knapp 44 vH. Gleichzeitig ist der Anteil der Netto- Gewinnquote von gut 25 vH auf fast 30 vH gestiegen. Wie sehr zu dieser Strukturveränderung des privat verfügbaren Volkseinkommens die öffentliche Umverteilungspolitik beigetragen hat, lässt sich aus Tabelle 4 ablesen. Danach haben sich insbesondere die Belastungen von Lohn- und Gewinneinkommen durch direkte Steuern diametral entwickelt: Im langfristigen Vergleich ist die der Löhne von gut 6 vH auf fast 20 vH gestiegen, die der Gewinne von fast 20 vH auf fast 6 vH gesunken. Aber auch die gleichzeitige Zunahme der Lohnbelastung durch Sozialversicherungsabgaben auf fast das doppelte Ausmaß ist beachtlich. Bezieht man die indirekten Steuern mit ein, so erhält man ein fast dramatisches Bild der Steuerlastverschiebung in Deutschland. Der Anteil der indirekten Steuern am gesamten deutschen Steueraufkommen ist seit 1980 nicht nur um acht Prozentpunkte auf die Hälfte gestiegen. Der Anstieg bedeutet auch eine Belastungszunahme der aktiven oder ehemaligen Lohnempfänger, die mit ihren Familien über die Verausgabung ihrer Einkommen den weitaus größten Teil der indirekten Steuern, vor allem Umsatz- und Verbrauchsteuern, zu tragen haben. Zählt man die ergiebigsten Steuerquellen schließlich zusammen ­ die direkte Lohnsteuer und die indirekten Umsatz- und Mineralölsteuern -, dann finanzieren die Arbeitnehmer und ihre Familien heute drei Viertel aller Steuereinnahmen, während die Gewinnsteuern nur noch zu 17 vH zum gesamten Steueraufkommen beitragen (Tabelle 5). Vor mehreren Jahrzehnten dagegen war der Finanzierungsbeitrag aus beiden Quellen mit jeweils rund einem Drittel des gesamten Steueraufkommens noch gleichmäßig verteilt. Der deutsche Sozialstaat wird heute also weit überwiegend aus den Arbeitseinkommen bzw. von den Arbeitnehmern und ihren Familien finanziert. Dies wird auch deutlich, wenn man neben der Finanzierungsseite des Sozialstaats zusätzlich die Verwendungsseite betrachtet: innerhalb des verfügbaren privaten Volkseinkommens (in Tabelle 3) ist im Jahr 2000 die Summe aus den verfügbaren Lohneinkommen und den monetären Sozialleistungen - in denen öffentliche Renten und Transfers für Arbeitslose, Invalide, Familien mit Kindern u.a. zusammengefasst werden - mit knapp 70 vH kleiner als die Summe der Bruttolohneinkommen vor der öffentlichen Umverteilung in Höhe von 72,3 vH. Diese Diskrepanz besteht aber auch schon vor 2000 seit vielen Jahren.

Die eingetretene Schieflage in der Steuerlastverteilung geht nun nicht nur auf kumulierte Gesetzesänderungen zugunsten der Wirtschaft bzw. von Gewinnen und Vermögenseinkommen zurück. Sie ist gerade bei den beiden letztgenannten Einkommensquellen ebenfalls entstanden durch die vorhandenen legalen und illegalen Schlupflöcher zur Umgehung und Vermeidung von Steuern. Diese Schlupflöcher können vor allem in großem Stil auch faktisch für die Entlastung von Gewinnen und Vermögenseinkommen genutzt werden, weil die entsprechenden staatlichen Kontrollen beim Steuervollzug und die staatlichen Sanktionen bei Verstößen gegen Steuergesetze nicht ausreichend sind. Diese Kontroll- und Sanktionsdefizite wirken sich insbesondere bei betrieblichen Gewinnsteuern und bei privaten Zinseinkommen auf Vermögen aus. Eine Besteuerung der Vermögensobjekte selbst ist sogar 1995 abgeschafft und auch 1998 nach dem Regierungswechsel von Kohl zu Schröder nicht wieder eingeführt worden. Deshalb gibt es schon seit längerem Anlass, wie in der Kopfzeile von Tabelle 5 geschehen, von praktisch zwei Steuersystemen in Deutschland zu sprechen (Schäfer, 1998 b): einem funktionierenden und den Staat finanzierenden System zu Lasten von Arbeitnehmern und ihren Familien (Zwangssteuern) sowie einem zweiten und nur bedingt funktionsfähigen System zugunsten von Gewinnen und Vermögenseinkommen (Gestaltungssteuern).

Aus diesen Gründen hat schon vor Jahren noch in der Regierungszeit Helmut Kohls der damalige Chefredakteur der größten deutschen Wirtschaftszeitung, Hans Mundorf (1994, 1996), angesichts des "dualen" Charakters des deutschen Steuersystems vor der Rückkehr zu einem historisch schon einmal praktizierten Schedulen-System gewarnt, das entgegen dem demokratischen Prinzip einer gerechten Steuerlastverteilung bestimmte Einkommensquellen oder Personengruppen von der Steuerzahlung mehr oder weniger freistellte. Mundorf hat sich auch nicht gescheut daran zu erinnern, dass die französische Revolution zum Teil auf den gesellschaftlichen Unmut über die Steuerfreiheit von Adel und Klerus zurück ging. Dieser zunehmend duale Charakter des deutschen Steuersystems ist durch die seit 1998 von der Rot-Grünen Bundesregierung und ihre Steuerreformen nicht wesentlich korrigiert worden (im einzelnen Truger, 2001). Insbesondere den erheblichen Steuerschlupflöchern bei Gewinnen und Vermögenseinkommen wird nach wie vor nicht energisch genug begegnet. Zusätzlich werden hohe Einkommen auf der Gesetzesebene vor allem durch eine deutliche Herabsetzung des Spitzensteuersatzes wie der Einkommensschwelle für den Spitzensteuersatz begünstigt, so dass die Progressionswirkung im oberen Einkommensbereich weiter sinkt. Gleichzeitig werden untere Einkommen durch Anhebung des steuerfreien Existenzeinkommens stärker entlastet. Als Folge spielt sich die Progressionswirkung der Einkommensteuer zunehmend im Bereich mittlerer Einkommen ab. Diese gravierenden Entwicklungen auf der Ebene der funktionalen Einkommensverteilung vor und nach der öffentlichen Umverteilung werden übrigens im ersten nationalen Armuts- und Reichtumsbericht für Deutschland weitgehend ausgeblendet, den die Bundesregierung Schröder (2001) für die personelle Verteilung der verfügbaren Einkommen auf die privaten Haushalte und die darin lebenden Personen vorgelegt hat. Die Ausblendung der funktionalen Verteilung ist umso unverständlicher, als sie die personelle Verteilung wesentlich vorprägt. Aber auch die Darstellung der personellen Verteilung im Regierungsbericht ist zu kritisieren (wie bei Schäfer 2001), weil sei einige Verteilungsentwicklungen, insbesondere die Vermögenskonzentration, beschönigt. Trotzdem stellt der Regierungsbericht für die jüngere deutsche Vergangenheit eine generell zunehmende Ungleichheit in der Einkommensverteilung fest und darin auch verschiedene Tendenzen zum sozialen Ausschluss einschließlich Armut von großen Bevölkerungsgruppen, die von der Vorgängerregierung Kohl teilweise noch heftig abgestritten wurden. Ein großer Teil dieser personellen Verteilungsprobleme ließe sich jedoch schon lösen, wenn die funktionale Verteilung und darin insbesondere die Steuerlastverteilung geändert würde. Vor solchen und anderen Konsequenzen aber hat sich die aktuelle deutsche Bundesregierung offenbar gescheut, denn in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht findet sich weder eine Ursachenanalyse noch eine Bewertung der personellen Verteilungsungleichheiten, die sie zum politischen Handeln drängen würde.

Bis zu dieser Stelle ist die Argumentation des Autors zur Veränderung der deutschen Einkommensverteilung vor und nach der öffentlichen Umverteilung eine scheinbar soziale oder "moralische", weil sie Ungerechtigkeiten beklagt. Die Argumentation ist jedoch in Wirklichkeit auch eine fundamental ökonomische, weil sie ausgebliebene neoliberale Versprechen und im Gegensatz dazu eingetretene ökonomischen Schäden anspricht. Auf die unerfüllt gebliebenen beschäftigungspolitischen Hoffnungen der größeren Ungleichheit ist schon oben hingewiesen worden. Die ökonomischen Schäden müssen noch erläutert werden. Sie gehen von Belastungen der deutschen Binnennachfrage aus, dem nicht nur in Deutschland größten und wichtigsten konjunktur- und wachstumstragenden Nachfrageaggregat, die auf die berichteten Verteilungsentwicklungen zurückzuführen sind.

Das private Nachfragepotential ist geschwächt worden, weil die berichtete Strukturverschiebung innerhalb des privaten Volkseinkommens zu mehr Gewinneinkommen auch eine Verschiebung zugunsten einer geringeren Konsumneigung bedeutet, da Gewinnempfänger relativ weniger ausgeben als Lohnempfänger. Dieser Schwächungseffekt hat sich aus drei Gründen, die tendenziell kompensierend gewirkt haben, nicht stärker ausgewirkt: Insbesondere in den 90er Jahren ist die private deutsche Sparquote zurückgegangen, u.a. weil viele private Haushalte wegen relativ gesunkener Einkommen weniger sparen konnten, um ihren Lebensstandard zu halten. Gleichzeitig sind die Summen der monetären Sozialleistungen des Staates wegen registrierter Arbeitslosigkeit und anderer Erwerbslosigkeit gestiegen, obwohl gleichzeitig individuelle Ansprüche auf Sozialleistungen gekürzt wurden. Der dritte Grund mit Kompensationswirkung schließlich war die deutsche Vereinigung selbst, die Anfang der 90er Jahre einen wirksamen, aber schnell vorübergehenden Konsum- und auch Investitionsboom ausgelöst hatte. Trotz dieser Gründe hat im Verlauf der restlichen 90er Jahre die verteilungsbedingte Schwächung des privaten Nachfragepotentials den privaten Konsum in Deutschland nur zu einem sehr mäßigen Wachstum veranlasst. Dieses aber hat einen Großteil der Arbeitsmarktbelastung in Form von registrierter und versteckter Arbeitslosigkeit erst erzeugt, zumindest aber verfestigt ­ obwohl man diese Arbeitslosigkeit mit den neoliberalen Verteilungskuren gerade abbauen wollte. Der deutsche Export ist zwar gleichzeitig ­ trotz angeblicher Standortnachteile wegen zu hoher Löhne, Steuern, Regularien usw. ­ von Rekord zu Rekord geeilt, konnte aber die Schwäche des privaten Konsums nicht kompensieren.

Außerdem musste wegen derselben Verteilungsentwicklungen neben der privaten Nachfrage auch die öffentliche Nachfrage leiden. Nicht nur wegen der Folgekosten der deutschen Vereinigung und der Auflagen des Maastrichter Vertrages musste der deutsche Staat seine Ausgaben relativ zurücknehmen. Auch die steuerliche Entlastung der Wirtschaft, die schon vorher eingesetzt hatte, bedeutete enger werdende Ausgabenspielräume bzw. größer werdende Sparzwänge. So sind in den 90er Jahren in Deutschland die öffentlichen Investitionsausgaben für Infrastruktur absolut um 30 vH real gesunken und das öffentliche Personal um absolut 20 vH abgebaut worden ­ auch wenn beim Personal teilweise "überbesetzungen" der Verwaltungen in den neuen Bundesländern zu korrigieren waren. Im Gegensatz dazu sind die Bedarfe an Infrastruktur und Personal ­ Reparaturbedarf, Ersatzbedarf und teilweise gänzlich neuer Bedarf ­ in vielen öffentlichen Bereichen weiter gestiegen, vor allem in der schulischen und universitären Bildung, im öffentlichen Verkehr, in der Kanalisation, im Wohnungsbau, bei alternativen Energien usw. Mehr noch als die verhaltene Entwicklung des privaten Konsums produziert der Sparkurs der öffentlichen Haushalte nicht nur Belastungen der Konjunktur, sondern auch des Wachstums und damit schlechtere Zukunftsaussichten. Wenn heute noch z.B. die deutsche Wettbewerbsfähigkeit von einer guten Basis beim privaten Humankapital und beim öffentlichen Infrastrukturkapital zehrt, so kann die Substanz dieser Basis bald ausgehöhlt werden, wenn sich die verteilungspolitischen Entwicklungen weiter fortsetzen. Und schon lange sehen in Deutschland breite Kreise durch die Verteilungsentwicklung, die sozialen Ausschluss und Armut von großen Bevölkerungsgruppen produziert, den sogenannten sozialen Frieden bereits verletzt, der für sie sowohl einen wichtigen Demokratiefaktor wie einen erheblichen Produktivitätsfaktor darstellt.3 Trotzdem sind aktuell die politischen Weichen noch auf eine Fortsetzung des neoliberalen Kurses gestellt, wie man z.B. an den mittelfristigen Haushaltsplanungen der deutschen Bundesregierung und vieler deutscher Landesregierungen mit der Zielsetzung von Haushaltsüberschüssen ablesen kann.

Die neoliberalen Politikmuster, die insbesondere den berichteten Verteilungsentwicklungen zugrunde liegen, verursachen demnach auf lange Sicht eher das Gegenteil ihrer Versprechen. Mit ihrer Umsetzung hat sich Deutschland quasi in eine selbstgemachte "Beschäftigungsfalle" begeben, die sich zu einer generellen "Zukunftsfalle" ausweitet: Eine ständige Zurückhaltung bei Lohnerhöhungen und eine wachsende Spreizung der Lohnniveaus höhlen die private Binnennachfrage als wichtigsten Konjunktur- und Wachstumsmotor aus. Zusätzlich führen fortgesetzte Steuerentlastungen der Wirtschaft, die nur teilweise durch ständig steigende Belastungen der Arbeitseinkommen auszugleichen sind, zu Sparzwängen in den öffentlichen Haushalten und zu geschwächter öffentlicher Nachfrage, die Vernachlässigung der Infrastruktur einschließt. Beide Nachfrageeffekte erzeugen Arbeitslosigkeit und davon ausgehende Folgekosten in den öffentlichen Haushalten, die noch mehr staatlichen Sparzwang nach sich ziehen. Wird nach weiteren Entlastungen der Wirtschaft als vermeintlichem Heilmittel gegriffen, setzt sich die Wirkungsspirale fort und macht die Falle immer wirksamer, um irgendwann auch die Wettbewerbsvoraussetzungen der Unternehmen und noch viel mehr zu gefährden.

3. Andere europäische Erfahrungen

Solche Fallen sind auch in anderen europäischen Ländern in den letzten Jahren als Folge neoliberaler Politikmuster entstanden. Da die nationale Anwendung dieser Muster in unterschiedlicher Intensität erfolgte und auf der Grundlage verschiedener vorhandener Ausprägungen des europäischen Modells geschah, sind auch die Wirkungen teilweise unterschiedlich geblieben. Zwar sind angesichts immer noch nicht einheitlicher Berichtssysteme in Europa, selbst innerhalb der Europäischen Union, diese Wirkungen nicht einfach nachzuzeichnen. Trotzdem sind einige neoliberale Hauptmuster in Europa ebenso offensichtlich wie ihre weithin unerfüllt gebliebenen Versprechungen, insbesondere die auf eine spürbare Zunahme von Beschäftigung und Wirtschaftswachstum.

Mehr oder weniger ähnliche neoliberale Politikmuster in der Europäischen Union sind vor allem auf der verteilungspolitischen Ebene befolgt worden. So hat es in den meisten Ländern zurückhaltende Lohnerhöhungen und zunehmende Lohnspreizungen gegeben (ausführlich Schulten 2001 und Schulten/Stückler 2000). Die Staatsausgaben und in deren Rahmen sozialstaatliche Leistungen wurden ebenso häufig relativ oder sogar absolut reduziert (im Detail Schaffner Goldberg/ Rosenthal 2002). Das war nicht nur auf die Erfüllung der Maastrichter Verträge im Vorfeld der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zurückzuführen. Ein besonders wirksamer anderer Grund war auch die weit verbreitete Praxis von wiederholten Steuerentlastungen der Wirtschaft, die durch Ausgabensenkungen gegenfinanziert werden mussten. In diesem Rahmen wurde teilweise auch das Aufweichen bisher in Europa gepflegter steuersystematischer Prinzipien ­ insbesondere die progressive Besteuerung aller Einkommensquellen ­ durch Besteuerungsausnahmen im Sinn des schon erwähnten Schedulen-Systems praktiziert. In Deutschland kommt die Schedulenentwicklung tendenziell noch durch legale Steuerschlupflöcher und illegale Steuerhinterziehung zustande, besonders ausgeprägt z.B. bei Zinseinkommen aus Vermögen. In anderen europäischen Ländern hat man in den letzten Jahren aber für Vermögenseinkommen schon explizit auf der Gesetzesebene Abgeltungssteuern eingeführt, die die frühere progressive Besteuerung normativ ersetzen durch eine Proportionalsteuer oder sogar eine pauschale Steuer (zu Details s. Deutsches Bundesfinanzministerium 2001). Und auch in diesen Ländern spielt zusätzlich Steuerhinterziehung bei allen Residualeinkommen wie in Deutschland eine wichtige Rolle.

Die von solchen Politikmustern erhofften Außenwirkungen auf mehr Exporte und damit auch mehr Beschäftigung und Wachstum mussten schon deshalb verpuffen, weil sie eine moderne Form von beggar-my-neighbour-policy darstellen, die andere Länder früher oder später imitieren und so neutralisieren. Aber im Rahmen der nationalen Binnennachfrage mussten sie in jedem Fall zu einer Abwärtsspirale mit weniger Beschäftigung und geringerem Wachstum führen. Deshalb ähneln relative Senkungen von Löhnen, Steuern und Sozialleistungen auf nationaler Ebene immer mehr einem makaberen Wettlauf, an dessen Schluss alle Beteiligten nur verlieren können. Selbst die EU-Kommission hat inzwischen (1998, 2001) auf der Basis empirischer Vergleiche konstatieren müssen, dass z.B. für die beschäftigungsschaffende Wirkung niedriger Löhne kein Beleg zu erbringen ist. Sie bestätigt damit ein Urteil, zu dem vorher schon die OECD (1996) gekommen war. Beide Institutionen sind bekanntlich gegenüber neoliberalen Positionen eher freundlich eingestellt. Eine entsprechende internationale Untersuchung über die vermeintliche beschäftigungsfördernde Wirkung niedriger Unternehmenssteuern steht noch aus, dürfte aber zu einem vergleichbar ernüchternden Ergebnis kommen. Auch der empirische Augenschein über Europa hinaus bestätigt schon lange, dass Länder mit niedrigen Lohnkosten, Steuern und Sozialleistungen nicht etwa von Vollbeschäftigung und hohem Wachstum geprägt sind, sondern im Gegenteil gleichzeitig viele ökonomische und soziale Probleme aufweisen.

Trotzdem werden in der öffentlichen Debatte immer wieder positive Beispiele bzw. "Erfolge" neoliberaler Politik behauptet und mit einzelnen Ländern oder einzelnen länderspezifischen Maßnahmen als "Beweis" zu belegen versucht. Doch auch hier zeigt ein genauer Blick: Es gibt zwar teilweise echte Erfolge, aber die sind gerade auf Abweichungen von neoliberalen Positionen zurückzuführen. In anderen Fällen werden die Erfolge nur herbeigeredet, während sich hinter den entsprechenden Behauptungen in Wirklichkeit teilweise gravierende Probleme verbergen. Deshalb sollen hier kurz noch einige spezifische Länder-Fälle in der EU betrachtet werden, deren öffentliche Wahrnehmung nicht mit ihrer Wirklichkeit übereinstimmt. So werden z.B. häufig England und Holland als neoliberale Erfolgsmodelle vorgestellt, weil sie insbesondere eine niedrige Arbeitslosenrate realisiert haben. Aber dies Ergebnis ist zweifelhaft, weil es vor allem durch häufige änderungen der Definition von Arbeitslosigkeit sowie durch mehrere Wellen von Frühpensionierungen und Invalidisierungen zustande gekommen ist. In beiden Länder machen die Anzahl der vorzeitig aus dem Arbeitsmarkt gedrängten älteren Arbeitnehmer im Verlauf der 90er Jahre ein mehrfaches der aktuell registrierten Arbeitslosigkeit aus. Dieses ,,Verdrängungsverfahren" belastet aber die Zukunft dieser Länder mit der jahrzehntelangen Finanzierung zusätzlicher Früh-Rentner, selbst wenn deren Rentenansprüche geringer sind als die von normalen Rentnern. Eine ähnliche Hypothek geht von der besonders in Holland praktizierten Vermehrung von Teilzeit aus, die zum großen Teil "lebenslang" praktiziert werden soll und deshalb für das Alter keine ausreichende individuelle Vorsorge garantieren kann, also entweder eine gesellschaftlich finanzierte Einkommensergänzung im Alter oder massive Altersarmut bedeutet. Die zugrunde liegenden politischen Entscheidungen haben zwar teilweise nichts mit neoliberalen Positionen zu tun, aber sie fügen sich in Holland oder England in ein neoliberal geprägtes oder als neoliberal ausgegebenes wirtschaftspolitisches Konzept ein, dem fälschlich der Rückgang der offiziellen Arbeitslosigkeit zugerechnet wird.

Gelobt wird z.B. auch Norwegen wegen seiner schon viele Jahre bestehenden überschüsse im öffentlichen Haushalt. Im Grunde ist es aber gerade deswegen zu kritisieren, weil mit den überschüssen besser die erheblichen Defizite in der öffentlichen Infrastruktur Norwegens als die eigentlich sinnvolle Zukunftsvorsorge behoben würden. öffentliche Verkehrswege und öffentliche Bildungseinrichtungen sind unzureichend, in den Städten fehlen preiswerte Wohnungen und im ganzen Land genug Krankenhausplätze ­ so dass seit einiger Zeit Risikopatienten auf Basis eines norwegisch-deutschen Vertrages deutlich schneller in deutschen Krankenhäusern operiert werden. Doch statt diese nationalen Probleme zu beseitigen besorgt die Geldanlage der norwegischen überschüsse in internationalen Wertpapieren die Finanzierung von Infrastrukturmaßnahmen anderer Staaten oder von Akquisitionsplänen privater Firmen im In- und Ausland. Auch deshalb hat Norwegen seit kurzem eine neue Regierung, deren Umgang mit den norwegischen Haushaltsüberschüssen allerdings noch abzuwarten bleibt. Für nicht-europäische Leser sollte hinzugefügt werden, dass die abgelöste norwegische Regierung eine sozialdemokratische war, die neue eine konservative ist.

Im Gegensatz zu den drei eben erwähnten EU-Ländern werden andere europäische Fälle häufig skeptisch betrachtet, weil sie sich neoliberalen Politikelement eher verschließen. Doch deren Performanz ist häufig gut bis sehr gut, ohne dass dies eine gebührende öffentliche Beachtung findet. So hat insbesondere Frankreich in den letzten Jahren durch eine expansive Fiskalpolitik, durch relativ kräftig gestiegene Löhne und auch durch deutliche Arbeitszeitverkürzungen ohne proportionale Einkommenseinbußen gleichzeitig seine Arbeitslosigkeit um vier Prozentpunkte abbauen können sowie eine spürbare Belebung seines Wirtschaftswachstums erzeugt (zu Ergebnissen und Ursachen im Detail Volz 2001a und b). Dänemark wird sogar gelegentlich wegen der höchsten Staats(ausgaben)quote in der Europäischen Union von über 53 vH des Bruttoinlandsprodukts getadelt, während Deutschland "nur" eine Staatsquote von 47 vH aufweist (Tabelle 6). In Dänemark ist die Steuerquote (48,5 vH) sogar fast identisch mit der Abgabenquote (50,5 vH), weil dort auch die Finanzierung von Sozialleistungen fast ausschließlich durch Steuern, überwiegend direkter Art, und nur marginal durch Sozialversicherungsbeiträge erfolgt. Trotzdem leidet Dänemark entgegen neoliberalen Vorstellungen keine ökonomische Not, sondern weist mit einer international hohen Wettbewerbsfähigkeit, einer sehr niedrigen Arbeitslosigkeit und einem guten Wachstum eine beachtliche Performanz auf. Die Ursachen dafür sind ebenfalls entgegen neoliberalen Positionen in einer relativ gleichmäßigen Einkommensverteilung sowie einer ausgewogenen Steuerlastverteilung zurückzuführen. Beides sichert gefüllte Staatskassen, mit denen insbesondere das dänische Humankapital im staatlichen Bildungssystem wie in der beruflichen Aus- und Weiterbildung gefördert wird. Vor allem letztere ist sehr intensiv, um durch vorbeugende Qualifizierung von Arbeitnehmern nicht nur Arbeitslosigkeit zu vermeiden, sondern bereits vorhandene Arbeitslose durch Job-Rotation zwischen Arbeitsuchenden und Beschäftigten in Qualifizierungsmaßnahmen abzubauen. Insofern kommen übrigens die ausnahmsweise aus neoliberaler Sicht gelobten dänischen Sanktionsdrohungen gegenüber arbeitsunwilligen Arbeitslosen gar nicht zum Tragen, weil es in Dänemark entgegen vielen anderen EU-Ländern für Arbeitslose ein ausreichendes Qualifizierungsangebot und vor allem eine ausreichende Auswahl an Arbeitsstellen gibt.

Ein Versuch, aus den insbesondere verteilungspolitischen Entwicklungen einzelner europäischer Länder in den letzten Jahren ein Gesamturteil abzuleiten, kann den geschilderten und anderen aktuellen wie historischen Besonderheiten nur bedingt Rechnung tragen. Eine außergewöhnliche Besonderheit ist z.B. die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990, die wegen des folgenden Industrie- und Beschäftigungsabbaus in den neuen ostdeutschen Bundesländern und seinen finanziellen Lasten die Performanz Deutschlands noch auf längere Zeit beeinträchtigen wird. Eine andere herausragende Besonderheit stellen die Strukturen in England dar, die sich schon vor der neoliberalen Thatcher-Politik und erst recht danach stark von kontinentalen europäischen Verhältnissen unterscheiden. Trotzdem scheint es gerechtfertigt zu generalisieren, dass die Implementation von neoliberalen Elementen in Europa mehr ökonomischen und sozialen Schaden als Nutzen gebracht hat, während die endogene Modernisierung des europäischen Sozialstaatsmodells in Verbindung mit Nachfragesteuerung wie in Frankreich oder in Dänemark den erfolgreicheren Weg weist. Doch selbst Länder, die einen kräftigen Import neoliberaler Elemente vorgenommen haben, weisen immer noch ein beachtliches sozialstaatliches Fundament auf, das in seiner Stärke ausstrahlt und die nachteiligen Wirkungen neoliberaler Politik ökonomisch neutralisiert oder zumindest sozial flankiert.

Im weltweiten Vergleich jedenfalls ist die soziale wie ökonomische Performanz Europas gut. Auf die soziale braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. Und zur ökonomischen Leistungsfähigkeit ist zu betonen, dass die einzelnen europäischen Länder wie die EU insgesamt in der Regel Exportüberschüsse gegenüber dem Rest der Welt aufweisen ­ pro Kopf der Bevölkerung ist Deutschland z.B. seit vielen Jahren ununterbrochen "Exportweltmeister" weit vor den USA oder Japan. Zugleich ist die Außenhandelsabhängigkeit Europas nicht allzu groß, weil es einen ausgeprägten Binnenmarkt gibt; auch der supranationale Warenaustausch der europäischen Länder wird weit überwiegend zwischen ihnen selbst abgewickelt. Ausgeprägte Schwächen im Rahmen der EU bzw. Europas gibt es eher dort, wo aus historischen Gründen der Sozialstaat noch einen Nachholbedarf aufzuweisen hat ­ dessen schnelle Befriedigung aber gerade von der zunehmenden Verbreitung neoliberaler Elemente gestört wird: in Griechenland, Portugal und auch Spanien. Diese Länder, die auch durch konservative Diktaturen lange Zeit am Anschluss zu Kerneuropa gehindert wurden, weisen heute noch trotz vieler Subventionen aus supranationalen EU-Fonds überdurchschnittliche Probleme auf. Sie konnten diese auch deshalb nicht ausreichend bewältigen, weil ihre Staats(ausgaben)quoten als Ausdruck von gesellschaftlichem Handlungsspielraum immer noch im EU-Rahmen relativ niedrig liegen (Tabelle 6). Bei der Abgabenquote, die die Staatseinnahmen aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen enthält, ist der Abstand zu Kerneuropa noch größer, nicht zuletzt weil es in Griechenland, Portugal und Spanien nach wie vor schwer fällt, ein progressives und alle Einkommen erfassendes, effektives System direkter Steuern durchzusetzen. Der Steuerwiderstand von bisher dort Privilegierten und die historische Last von Diktaturen weisen zugleich auf positive Zusammenhänge zwischen Demokratie, Sozialstaatlichkeit und ökonomie hin, die in den drei Ländern noch deutlicher zutage tritt als in anderen EU-Staaten, aber auch dort nicht unterschätzt werden darf. Das gilt selbst für demokratische Einwirkungsmöglichkeiten in der Wirtschaft, die häufig als europäischer "Korporatismus" missverstanden oder gar kritisiert werden, aber nicht unerheblich zur ökonomischen Effizienz beitragen können (so Hall/Soskice 2001). Der Rückstand von Griechenland, Portugal und Spanien zu Kerneuropa ist also indirekt auch Ausdruck für die ­ in diesen Ländern bisher bei weitem nicht ausgeschöpfte ­ Leistungsfähigkeit des europäischen Modells.

Dieses Modell funktioniert also schon über längere Zeit gut ­ aber wie lange noch, wenn die neoliberalen Elemente weiter zunehmen und eines Tages, wie es sich für Deutschland schon abzeichnet, die Substanz des europäischen Modells angreifen? Dann wird europaweit die am deutschen Beispiel dargestellte "Zukunftsfalle" über den Mechanismus ausgehöhlter Binnennachfrage und vernachlässigter Infrastruktur noch mehr jener Probleme erzeugen, vor der die Anwendung neoliberaler Politikmuster eigentlich zu bewahren vorgibt. Wie sich diese Probleme in Europa auswirken könnten, lässt sich übrigens gerade an den USA ablesen, die entgegen dem von ihnen geprägten Bild in der Zukunftsfalle teilweise schon angekommen sind.

4. Das Modell USA

Das von den USA behauptete "schöne" Bild ­ das seit Anfang 2001 durch den dort begonnenen Abschwung ohnehin erste offensichtliche Flecken bekommt - hält der empirischen überprüfung auch für die Zeit vor 2001 nicht stand. Im Kontrast zum "Beschäftigungswunder" und anderen vermeintlichen Vorzügen erweist sich die ökonomische Effizienz des "US-Modells" als eher gering, der dafür gezahlte soziale Preis dagegen als sehr hoch. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die ökonomische Performanz der USA bisher und auch zukünftig so schlecht ausfällt, weil sie die sozialen Probleme und darunter eine extrem ungleiche Einkommensverteilung haben, genauer: weil sie glauben, diese aus ökonomischen Gründen hinnehmen zu müssen. Das ist übrigens das Urteil vieler amerikanischer Wissenschaftler, die ihr eigenes Land seit Jahren viel kritischer betrachten als es Europa bisher gewohnt ist ­ und deren Daten und Argumente hier im folgenden teilweise herangezogen werden5. Es kommt dabei nicht von ungefähr, wenn einige von ihnen schon im Titel ihrer Publikation die Fakten zuspitzen zu: Unterschätzte soziale Kosten, überbewertete ökonomische Vorteile des "US-Modells" (so Schmitt, Mishel, Bernstein 1998). Im internationalen Vergleich bietet das US-Modell auf Basis offizieller Indikatoren der US-Administration oder der OECD ohnehin erst seit etwa 1994 eine überwiegend bessere Performanz als Europa (Details bei Schmitt, Mishel, Bernstein). Aber in den üblichen Indikatoren kommt nicht die ganze Wahrheit zum Ausdruck; einige darunter sind sogar regelrecht irreführend.

Zunächst zur US-Einkommensverteilung als vermeintlich notwendiger "Vorleistung" für eine hohe ökonomische Leistungsfähigkeit. Sie gilt heute im allgemeinen als doppelt so ungleich wie die deutsche. Hinter dieser Aussage verbergen sich im einzelnen jedoch mehrere Entwicklungslinien sozialer Polarisierung (näheres insbesondere Faux 1998). Der reale Durchschnittslohn ist im ersten Halbjahr 1997 um mehr als 10 vH niedriger gewesen als 1979 und selbst 4 vH niedriger als 1992 auf dem Tiefpunkt der damaligen US-Rezession. Das Verhältnis zwischen den Bezügen von Vorstandsmitgliedern und dem Durchschnittslohn von Arbeitnehmern, das in den 70er Jahren noch 34 : 1 betrug, beläuft sich heute auf 200 : 1. Wäre der gesetzliche Mindestlohn in den USA allein seit 1990 genauso stark erhöht worden, wie die Management-Gehälter, betrüge er zuletzt 25,50 Dollar statt faktisch 5,15 Dollar pro Stunde (1990:3,80 Dollar) Die Lohnquote, die in der Nachkriegszeit zunächst ständig gestiegen war, ist seit Beginn der 80er Jahre zugunsten der Gewinnquote deutlich gefallen. Auch die Verteilung der Haushaltseinkommen hat sich seitdem kräftig gespreizt: Das Einkommensverhältnis zwischen den "obersten" 5 vH aller Haushalte und den "untersten" 20 vH ist von 11 : 1 auf 19 : 1 gestiegen. Seit 1991 ist das durchschnittliche Realeinkommen der unteren 60 vH aller Haushalte sogar gesunken ­ obwohl gleichzeitig im Durchschnitt die Zahl der Erwerbstätigen pro Haushalt, die Zahl der Jobs pro Haushaltsmitglied und die jeweilige individuelle Arbeitszeit zugenommen haben.

Zu dieser Entwicklung tragen nicht nur die Markteinkommen, sondern auch die in den USA relativ bescheidenen Sozialleistungen des Staates wie der Arbeitgeber bei. Der Anteil der US-Arbeitnehmer mit Krankenversicherung und betrieblicher Altersversorgung ist heute kleiner als früher. Angesichts vieler niedriger Einkommen können die US-Bürger in zunehmendem Maß nicht die notwendigen Beiträge für entsprechende private Vorsorgeleistungen aufbringen, die weitgehend fehlende staatliche Sicherungssysteme ersetzen müssen. Diejenigen US-Arbeitnehmer, die solche Beiträge zahlen können, sind deshalb aber nicht besser gestellt als in Systemen sozialstaatlicher Absicherung. Gerade die private Krankenversicherung ist in den USA häufig teurer als die staatliche in Europa, zumal Arbeitgeber zu einem eigenen Beitrag für die private Krankenversicherung ihrer Beschäftigten nicht verpflichtet sind. Und die privaten Sozialleistungen sind auch nicht unbedingt sicherer als staatliche, wie das Schicksal der betrieblichen Altersvorsorge in der gerade in Konkurs gegangenen US-Firma Enron zeigt. Selbst die direkte Steuerbelastung von US-Arbeitnehmern ist oft nicht niedriger als in Europa, weil zu den staatlichen Steuern, die im internationalen Vergleich eine geringe US-Last suggerieren, noch spezifische US-Länder und ­Gemeindesteuern hinzukommen. Der Vergleich fällt erst recht zu Lasten vieler US-Arbeitnehmer und ihrer Familien aus, wenn man das hohe private Schulgeld mit berücksichtigt, das es in Europa im Regelfall nicht gibt.

Insgesamt gilt jeder dritte US-Bürger inzwischen auch nach offiziellen Kriterien als "einkommensarm" ­ wegen gänzlich fehlender Arbeit und wegen unzureichender Löhne trotz Arbeit (US-Handelsministerium 1998). Noch größer schließlich ist die Ungleichheit der Vermögensverteilung: Während auf 40 vH der US-Haushalte nur 1 vH des US-Reichtums entfällt, besitzen die "allerobersten" 1 vH aller Haushalte etwa 30 vH des Vermögens und die "obersten" 5 vH aller Haushalte immerhin zusammen 55 vH der US-Vermögenswerte (Quadrini/Rios-Rull 1997). Diese Zahlen sind mehr oder weniger alle für den Höhepunkt des konjunkturellen US-Booms während der 90er Jahre erhoben worden. Um wie viel mehr muss sich deshalb seit dem Beginn des US-Abschwungs Anfang 2001 die Verteilungssituation verschärfen. Angesichts einen solchen sozialen "Preises" sollte die ökonomische "Gegenleistung" im Sinn der eingangs erwähnten neoliberalen These beachtlich ausfallen. Doch eher ist das Gegenteil der Fall. Das gilt selbst für die Entwicklung des US-Arbeitsmarkts. Die Zunahme der Arbeitsplätze in den USA von 1980 bis 2000 um die vielzitierten 30 Millionen soll hier als absolute Größe nicht in Frage gestellt werden. Aber ein Wunder ist es nicht, wenn diese Zahl in Relation zur Größe der US-Bevölkerung und zu ausländischen Entwicklungen gestellt wird. Dann beträgt der US- Beschäftigungszuwachs seit 1989 jährlich nur noch 1,1% und liegt damit nicht weit von vielen OECD-Ländern mit anderen Politikmustern entfernt (s. Schmitt, Mishel, Bernstein 1998). Der Beschäftigungszuwachs in den USA ist auch überwiegend nicht im Niedriglohn-Bereich entstanden, also auch nicht durch niedrige Löhne verursacht. Ursache für den Anstieg der Beschäftigung sind vielmehr andere Faktoren. Dazu zählen die US-Besonderheit eines von hohen Geburtenraten und starken Zuwanderungen getragenen ausgeprägten Bevölkerungswachstums; dazu gehört vor allem eine expansive Wirtschaftspolitik, die zu Anfang der 90er Jahre niedrige Zinsen und hohe Staatsausgaben entgegen einer neoliberalen Sichtweise kombiniert hat (Horn 1998) und gegen Ende der 90er Jahre durch das Zusammenwirken von niedrigen Zinsen und hohen privaten Konsumausgaben abgelöst wurde. Noch viel wichtiger aber ist, dass die überbetonung des absoluten Jobwachstums in den USA und seine Identifikation mit einer "Wunderwirkung" neoliberaler Wirtschaftspolitik viele ökonomische Probleme der USA überdeckt: Als erstes dieser Probleme ist der Beschäftigungsstand in den USA zu nennen, der als Erfolgskriterium langjähriger Praxis eines "Modells" viel wichtiger ist als der Beschäftigungszuwachs in einem relativ kurzen Zeitraum. Aber dieser Stand ist gekennzeichnet durch eine auch in den USA hohe Arbeitslosigkeit. Zwar hat die offiziell registrierte US-Arbeitslosigkeit das für Europa nachweisbare offizielle Arbeitslosenniveau unterschritten ­ wenn auch erst nach 1994. Aber die offizielle Definition der Arbeitslosigkeit in den USA ist trotz der Bemühungen etwa der OECD zur Herstellung von Vergleichbarkeit mit anderen Definitionen außerordentlich problematisch. Vor allem gibt es in den USA ein hohes Maß an versteckter Arbeitslosigkeit, also von Personen, die zwar Arbeit suchen, aber sich aus unterschiedlichen Gründen nicht registrieren lassen, z. B. deshalb nicht, weil sie nicht als Arbeitslose stigmatisiert werden möchten. So weist Lester Thurow (1996) seit Jahren auf viele Millionen US-Bürger hin, die zwar in der amerikanischen Bevölkerungsstatistik auftauchen, aber nicht in der US-Arbeitsmarktstatistik. Andere amerikanische Wissenschaftler wie Western/Beckett (1998) sind den Erfassungsproblemen von Arbeitslosen bzw. Nichterwerbstätigen in den USA am Beispiel der US-Männer systematisch nachgegangen und stellen fest, dass die tatsächliche Erwerbslosigkeit weit höher ist als die offizielle Arbeitslosenquote (siehe Tabelle 7). Western/Beckett setzen die in Erwerbsarbeit stehenden Männer in Relation zur vorhandenen männlichen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und definieren den nichterwerbstätigen Rest als tatsächliche Arbeitslose, der neben registrierten Arbeitslosen auch arbeitswillige Personen in der "stillen Reserve" bzw. versteckte Arbeitslose enthält, aber auch dauerhaft Kranke, Invalide und andere arbeitsunfähige Personen. Danach ist die Nichterwerbsquote von Männern in den USA ­ unabhängig vom Mitzählen der US-Gefängnisinsassen (siehe dazu unten mehr) ­ im internationalen Vergleich überraschend hoch; in Deutschland beträgt diese Quote heute (ohne Gefängnisinsassen) etwa 18%, also rund 10 Prozentpunkte weniger als das zuletzt ausgewiesene US-Niveau, das offenbar durch das "Beschäftigungs-Wunder" seit 1983 nur etwas verbessert wurde. Zumindest in der 10-Punkte-Differenz zum deutschen Niveau stecken also die von Thurow als "verschwunden" gekennzeichneten Arbeitslosen. Und vor allem gilt: Um diese 10 Punkte ist die Beschäftigungs-Performanz des US-Modells schlechter als die deutsche.

Im Rückstand gegenüber einigen anderen Industrieländern sind die USA in einem mittelfristigen Vergleich aber auch bei Wirtschaftswachstum und Produktivität (näheres bei Schmitt, Mishel, Bernstein 1998). Insbesondere das Produktivitätswachstum der USA ist seit Ende der 80er Jahre eines der international niedrigsten, das in Deutschland eines der höchsten. Wegen dieser Wachstumsunterschiede ist das US-Produktivitätsniveau, das 1960 noch rund doppelt so hoch war wie das in Europa, 1995 vom deutschen und französischen übertroffen worden ­ und andere EU-Länder standen 1995 kurz davor oder sind ebenfalls inzwischen vorbeigezogen. Nach anderen Quellen hat das US- Produktivitätswachstum zwar in der zweiten Hälfte der 90er Jahre erheblich angezogen und seinerseits die EU-Entwicklung überflügelt. Aber bei diesen Quellen, darunter auch US-offiziellen, kommen zumindest zwei problematische Faktoren zum Tragen: Zum ersten werden in den USA im Zuge einer Revision des Volkswirtschaftlichen Rechnungssystems auch Computersoftware und vergleichbare elektronische Strukturen in die realen Investitionen wertsteigernd eingerechnet und erhöhen so auch das Wirtschaftswachstum. Zum zweiten werden bei der Produktivitätsberechnung unrealistische kurze US-Jahresarbeitszeiten zugrundegelegt, die Niveau und Wachstum der US-Produktivität verfälschen (Pitz 1999, 2000).

Die seit Jahrzehnten hohen und steigenden Handelsbilanzdefizite der USA sind Ausdruck einer geringen Wettbewerbsfähigkeit von US-Produkten auf dem Weltmarkt. Ausnahmen wie Flugzeuge oder Computer bestätigen die Regel und sind auch teilweise auf frühere oder immer noch anhaltende, teils auch militärpolitisch begründete, Subventionierung zurückzuführen. Die verbreitete weitgehende Steuerbefreiung des Exportgeschäfts von US-Firmen, das in Offshore-Zonen von Tochterunternehmen abgewickelt wird, wurde gerade von der WTO für unzulässig im Rahmen der WTO-Regeln erklärt. Das Handelsbilanzdefizit der USA ist jedenfalls nur zum Teil mit Dumpingpraktiken oder phasenweise unterbewerteten Währungen von Konkurrenzländern, etwa Japan, zu erklären. Vor allem haben die Handelsbilanzdefizite eine enorme Verschuldung der USA im Ausland angehäuft. Zusätzlich verschärft wurde die Auslandsverschuldung der USA im Verlauf der 90er Jahre durch das "Spardefizit" ihrer privaten Haushalte, das in letzter Zeit sogar per Saldo in eine private Verschuldung bzw. eine negative Sparquote umschlug. Zwar sind Sparverhalten bzw. Verschuldungsbereitschaft auch ein makroökonomischer Hauptgrund für Konsumboom und Jobwachstum in den 90er US-Jahren ­ und eben nicht der "Niedriglohn-Sektor". Aber bei diesem Verhalten der privaten Haushalte fehlte den US-Unternehmen im Inland das nötige Geld zur Finanzierung ihrer Investitionen, so dass sie zusätzlich zur Bewältigung des Außenhandelsdefizits zur Auslandsverschuldung greifen mussten. Dieser Schuldenberg aber kann langfristig zum Damoklesschwert für die US-Wirtschaft werden (so Pitz 1999, 2000; Rifkin 2000 und zuletzt sogar der Internationale Währungsfonds 2001), insbesondere wenn das Vertrauen in den Dollar schwindet, wie es bei einer längeren Wachstumskrise und einer Offenlegung der realen US-Probleme nicht auszuschließen ist.

Bei der Suche nach möglichen Gründen für den relativ geringen ökonomischen Erfolg des US-Modells setzen immer mehr Wissenschaftler ausgerechnet bei den sozialen Problemen der USA an. So dürfte die weitverbreitete Armut in den USA eine wesentliche Ursache für fehlende Bildungs- und Leistungsbereitschaft sein. Angesichts von hoher offener und versteckter Arbeitslosigkeit sowie von weit verbreiteten niedrigen Löhnen in der Arbeit, die zur Annahme häufig mehrerer Jobs zwingen, fehlt bei den Arbeitnehmern die Motivation für jahrelange Qualifizierung und damit die Voraussetzung für hohe Arbeitsproduktivität. Und wegen der niedrigen Löhne und des großen Arbeitskräftereservoirs, das zudem ständig durch relativ gut ausgebildete Einwanderer erhöht wird (rund 10% der US-Arbeitnehmer sind nicht im Land geboren), fehlt auch in den US-Betrieben die Bereitschaft zur Ausbildung mit denselben negativen Folgen. Deshalb wollte z. B. die Clinton-Administration eine zukünftig verbesserte Bildung initiieren. Doch selbst vermehrte staatliche Bildungsausgaben würden zukünftig verpuffen, solange man die Situation der Einkommensverteilung bzw. der Armut als Hemmschuh der Bildungsbereitschaft nicht erkennt und nicht ebenfalls ändert. Schließlich ist die ungleiche US- Einkommensverteilung auch ein Grund für eine immer schon relativ geringe private Sparquote. Je ungleicher die Verteilung wird, umso stärker sind breite Bevölkerungskreise gezwungen, ihre Einkommen vollständig zur Sicherung ihres Lebensstandards zu verausgaben.

Noch stärker wird in den USA das Verhältnis von Armut und Arbeitsmarkt in Zusammenhang mit der US-Kriminalität diskutiert Von einem früher durchaus mit Europa vergleichbaren Niveau ist sie in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen, so dass der Bau und der Unterhalt von Gefängnissen sowie der Absatz von Sicherheitsvorkehrungen bzw. der Einsatz von Wachkräften während der 90er Jahre zu den ausgeprägten Wachstumsbranchen in den USA gehören. Freeman (1996) z. B. vertritt schon lange die These, dass der Anstieg der US-Kriminalität, genauer: des kriminalisierten Verhaltens, in der verbreiteten Armut begründet liegt, weil sie insbesondere die US-Männer zwingt, für den Lebensunterhalt kriminell zu werden. Aber es sind auch die Strafen in den USA verschärft bzw. sozial abweichendes Verhalten stärker kriminalisiert worden. Beide Effekte sind bei der Gegenüberstellung der Gefängnisinsassen der USA mit denen in Europa zu bedenken, die Wacquant in Tabelle 8 (1998) vorgenommen hat­ und die er ironisch mit "Die Verspätung Europas" überschreibt, weil er die einseitige Debatte in Europa über das vermeintlich vorbildliche US-Modell kennt. Freeman (1996, 1997) macht in Tabelle 9 darauf aufmerksam, dass neben den US-Gefängnisinsassen (2% der männlichen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter) noch die unter gerichtlichen Auflagen vom Gefängnis Bewahrten oder aus dem Gefängnis Entlassenen (5% der entsprechenden Bevölkerung) berücksichtigt werden müssen, um das personelle Ausmaß der Kriminalität zu verdeutlichen. (Für die letztgenannte Gruppe liegen für Europa keine Vergleichszahlen vor; doch dürften auch diese wie die Gefängnisinsassen wesentlich niedriger liegen als in den USA.)

Diese Kriminalität und ihre "Bewältigung" hat aus der Sicht von Western/Beckett (1998) Dimensionen und Wirkungen auf dem US-Arbeitsmarkt, die diesen wesentlich stärker regulieren als europäische Arbeitsschutzgesetze und Gewerkschaftsaktivitäten die Arbeitsmärkte in Europa ­ womit diese Autoren gleichzeitig eine Kritik an der einseitigen neoliberalen Regulierungsdebatte verbinden. Zwar hat die US-Kriminalität nach Western/Beckett für den US- Arbeitsmarkt zunächst entlastende Wirkung, d.h. die relativ positive Beschäftigungsentwicklung der USA im Spiegel amtlicher Kennziffern ist zum Teil auch auf das "Wegschließen" und "Ausschließen" von Kriminellen bzw. Kriminalisierten zurückzuführen. Aber langfristig wird die Kriminalität den Arbeitsmarkt belasten bzw. die Arbeitslosenquote erhöhen, weil die steigende Zahl der Kriminellen mit dem Stigma der Kriminalität immer weniger Beschäftigungschancen bekommen werden ­ es sei denn, so Western/Beckett, die Politik der Kriminalisierung verschärft sich ständig bzw. die Zahl der Weg- und Ausgeschlossenen wird immer weiter erhöht. Genau dies aber war die Entwicklung der letzten Jahre in den USA; und es ist kaum vorstellbar, dass sie immer weiter eskalieren könnte.

Freeman (1996) liefert Hinweise auf die heutige Belastung der US-Gesellschaft durch diese Politik, aber auch gleichzeitig auf einen möglichen Ausweg (Tabelle 9): Für entstandene Schäden der Kriminalität wie für vermiedene Schäden durch Sicherheitsmaßnahmen geben die USA jeweils 2% ihres BIP aus, also insgesamt 4% für Symptombekämpfung, während sie für Bekämpfung der häufigsten Ursache, nämlich die offene und versteckte Arbeitslosigkeit, durch Arbeitsmarktpolitik nur 0,55% des BIP verausgaben. Für Europa dürften diese Relationen ungefähr umgekehrt Gültigkeit haben (Bosch 1998).

In diesem Zusammenhang ist noch einmal die von Western/Beckett vorgenommene Unterscheidung zwischen offizieller und tatsächlicher US-Arbeitslosenquote in Verbindung mit Kriminalität von Interesse (siehe Tabelle 7, die sich nur auf US- Männer bezieht, weil diese rund 85% aller kriminellen Handlungen in den USA begehen). Es fällt auf, dass die Einbeziehung der männlichen Gefängnisinsassen in die offizielle Arbeitslosenquote letztere im Zeitverlauf immer stärker erhöht, zunächst um 1 Prozentpunkt und zuletzt um fast 2 Prozentpunkte. D. h. selbst wenn man die von Western/Beckett auch berechnete tatsächliche US-Arbeitslosenquote (s.o.) nicht bemüht: allein die Einbeziehung der US-Gefängnisinsassen erhöht das offiziell ausgewiesene Niveau der US-Arbeitslosigkeit Mitte der 90er Jahre um 30%. Zu betonen ist, dass die zitierten Daten, die das verbreitete "gewohnte" Bild der USA konterkarieren, während einer konjunkturell sehr guten Phase der US-Entwicklung erhoben worden sind. Da sie teilweise das Ende der 90er Jahre noch nicht erfassen, dürfte sich die reale Entwicklung zwischenzeitlich in einigen Bereichen sogar verschärft haben. Umso mehr Probleme werden durch den seit 2001 eingesetzten Abschwung auftreten und sich vergrößern, je länger er anhält. Die internationale öffentlichkeit ist schon deswegen bei der Rezeption des US-Modells sensibler geworden. So sorgte der Abschwung bereits für eine kritische Betrachtung des vermeintlichen Erfolgs der Clinton'schen Sozialhilfereform. Jetzt begründet der größte Konkurs der US-Geschichte bzw. der Enron-Skandal um gefälschte Gewinnausweise die Befürchtung, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt. Wenn auch dadurch das Vertrauen in die Renditemöglichkeiten des US- Anlagemarkes, die US-Kontrollbehörden, den US-Finanzmarkt generell leidet, wenn teilweise berechtigtes Misstrauen gegenüber früheren Angaben über US-Gewinne, Wachstum und andere Kennziffern wächst, werden auch die anderen US-Probleme stärker wahrgenommen ­ mit einer möglichen Verschärfung oder Verlängerung der Probleme.

5. Harmonie zwischen ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit

Doch ganz gleich wie sich die zukünftige US-Entwicklung darstellt ­ die vergangene reicht aus, um das Fazit aus den europäischen Erfahrungen zu verstärken: eine ungleiche Verteilung und neoliberale Politikmuster als Ursache erzeugen auf Dauer mehr sozialen wie ökonomischen Schaden statt Nutzen. Allein die gesellschaftliche Dimensionen des sozialen Schadens und seiner finanziellen Folgen, die am Beispiel der US-Kriminalität besonders plastisch werden, können in ökonomische Schäden umschlagen. Die Schäden bedrohen letztlich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der USA wie den nationalen sozialen Frieden. Letzterer ist nicht nur wegen dem vorhandenen Ausmaß von Kriminalität und Rassendiskriminierung gefährdet (s. zur Bewertung auch Shelden/Wise 2001). Gerade die generell zunehmende Polarisierung von Armut und Reichtum veranlasst manche US-Autoren (wie Lind 1995) schon, in ihren Auswirkungen eine Gefährdung der demokratischen Strukturen zu sehen.

Damit wird endgültig das verbreitete Bild einer angeblich natürlichen Konfliktbeziehung zwischen sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz auf den Kopf gestellt, ebenso das Bild von "Eurosklerose" einerseits und "US-Vorbild" andererseits. Ungleichheit ­ und erst recht mehr davon ­ ist nicht Motor, sondern Bremse auch für die ökonomische Entwicklung; und weniger Ungleichheit ist eine wichtige Bedingung für langanhaltende ökonomische Leistungsfähigkeit. Hier liegt das eigentliche Erfolgsgeheimnis der Verbindung von sozialstaatlichem ("rheinischem") Kapitalismus und europäischer Demokratie, das wiederbelebt werden sollte. Das neoliberale "Modell" und insbesondere seine Umsetzung in den USA dagegen bergen soviel Sprengstoff, dass eine zukünftige soziale wie ökonomische Selbstzerstörung nicht ausgeschlossen werden kann.

Die Verteilung von Einkommen, Vermögen, Bildungschancen, Arbeits- und Lebenszeit usw. spielt dabei jeweils eine doppelte Schlüsselrolle: zum einen dokumentiert sie wie ein Personalausweis die aktuelle soziale und ökonomische Leistungsfähigkeit eines Landes einschließlich des sozialen Friedens; zum anderen bietet sie entscheidende Hebel zur Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft. Mit dieser Zukunftsgestaltung gerade durch eine geeignete Verteilungspolitik sind nicht nur europäische Länder angesprochen. Die Lehren der Empirie lassen sich auch auf andere Länder übertragen und könnten gerade in Lateinamerika wegen der vorhandenen Berührungspunkte zu europäischen Strukturen auf fruchtbaren Boden fallen.

Es wäre allerdings ein Irrtum zu glauben, dass man von den US-Erfahrungen überhaupt nichts positives übernehmen könnte. Die expansive US-Wirtschaftspolitik in den 90er Jahren in einer Kombination von niedrigen Zinsen und hohen Staatsausgaben, der man zu Unrecht ein neoliberales Etikett aufgeklebt hat, bekräftigt die nach wie vor vorhandene Wirkung von Nachfragesteuerung. Das könnte selbst für die von der Bush-Regierung geplanten starken Steigerungen der US-Militärausgaben gelten, die wie ein Konjunkturprogramm wirken werden, auch wenn man den Inhalt dieses Programms missbilligen sollte. Oder die Praxis der US- Steuerbehörden, Verrechnungspreise zwischen US-Mutterunternehmen und im Ausland tätigen Tochterunternehmen weitgehend selbst festzulegen, zeigt trotz zunehmender grenzüberschreitender Wirtschaftstransaktionen nationalstaatliche Handlungsmöglichkeiten auf, um Unternehmensgewinne und damit auch Unternehmenssteuern im Land zu halten. Genauso muss hier aber auch vor dem Eindruck gewarnt werden, dass das sozialstaatliche "Modell Europa" trotz seiner Effizienz schon optimal wäre.

Diese Einschränkunken sind zu bedenken, wenn im folgenden versucht wird, im Umkehrschluss aus den empirischen Erfahrungen Strukturbedingungen für eine Gesellschaft zur Ausschöpfung der Harmoniebeziehung zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Effizienz zu formulieren. Wie man die Potentiale der Harmoniebeziehung am besten ausschöpft, bleibt nach den bisherigen Erfahrungen im Detail relativ offen. Hier dürfte es in Abhängigkeit von nationalen Strukturen eine Bandbreite von Lösungsmöglichkeiten geben. Es spricht jedoch angesichts der vorhandenen Erfahrungen wie der Erkenntnisse der "klassischen" Wirtschaftswissenschaft vieles dafür, dass darin insbesondere folgende Verteilungselemente eine tragende Rolle spielen sollten:

- Eine relativ gleichmäßige Einkommensverteilung bereits vor der öffentlichen Umverteilung: Sie vermittelt positive Aussichten auf ein ausreichendes Erwerbseinkommen und stimuliert darüber die Bildungs- und Leistungsbereitschaft möglichst vieler Personen. Sie kann eine breite Mittelschicht bilden und sozialen Ausschluss einschließlich Armut eindämmen. Dann erst kann man die Humanpotentiale eines Landes gänzlich nutzen und insbesondere auch gut ausgebildete und junge Leute im Land halten, anstatt sie per ,,brain drain" ins Ausland ziehen zu lassen.

- Eine noch gleichmäßigere Verteilung der verfügbaren Einkommen nach der öffentlichen Umverteilung: Damit kann man auf individueller Ebene nachteilige Lebenslagen ausgleichen, die selbst mit einem Arbeitsplatz nicht vermeidbar sind, aber auch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene eine starke Binnennachfrage in Verbindung mit einer stabilen Sparquote bzw. Investitionsquote sichern. Steile Einkommensverteilungen dagegen, siehe das Beispiel der USA, implizieren eher eine für die nationale Akkumulation niedrige Sparquote und damit tendenziell auch eine hohe Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern, wenn es eine Lücke zwischen nationaler Sparquote und nationalem Investitionsbedarf gibt. Diese Gefahr ist umso größer, je kleiner die private Sparquote ist, weil dann ausländisches Kapital nicht nur für Investitionen, sondern zusätzlich auch für importierten Konsum nötig sein kann ­ auch dies zeigt das US-Beispiel.

- Eine möglichst progressiv wirkende, einkommensabhängige und ausnahmslose Belastung aller Einkommensquellen mit Steuern- und Abgabenlasten: Damit ist soziale Gerechtigkeit bzw. sozialer Frieden wie fiskalische Ergiebigkeit garantierbar. Zur sozialen wie fiskalischen Funktionsbedingung des Progressivsystems gehört, dass in der Einkommenspyramide "unten" das Existenzminimum steuerfrei bleibt und "oben" die Progression weder zu früh noch auf zu niedrigem Belastungsniveau endet. Vor allem letzteres muss verhindern, dass die Progression oder sogar das ganze Steueraufkommen nur den Mittelstand belastet. Diese Gefahr lässt sich nur vermeiden, wenn für Einkommens-Reichtum möglichst wenig legale wie illegale Steuerschlupflöcher existieren, und wenn ­ da ersteres nie optimal gelingt ­ als Ergänzung zur Besteuerung des Einkommens-Reichtums eine Besteuerung des Vermögens- Reichtums dazu kommt. Staatseinnahmen durch indirekte Steuern, die prinzipiell kaum soziale Kriterien erfüllen und generell auch starke Steuerumgehungs- bzw. Privilegierungsprobleme enthalten, sollten im Rahmen des gesamten Steueraufkommens nicht dominieren.

- Eine gleichrangige Verausgabung der mit Steuern und Abgaben erzielten Staatseinnahmen für monetäre Sozialleistungen wie für reale Infrastruktur: Monetäre Sozialleistungen müssen, teilweise als Rechtsanspruch, individuell nicht bewältigbare Lebenslagen lindern - und zwar so zuverlässig und wirksam, dass statt sozialem Ausschluss möglichst gesellschaftliche (Re-)Integration und Zukunftssicherheit erzeugt werden. Auf solcher Basis kann die reale Infrastruktur erst recht die individuelle Bildungs- und Qualifizierungsbereitschaft wecken. Die Unternehmen schließlich profitieren von dieser individuellen Bereitschaft ebenso wie von anderen Infrastrukturgütern, die sie selbst in vergleichbarem Ausmaß nie verwirklichen könnten.

- Eine Ergänzung der Steuer- und Abgabeneinnahmen durch Staatsverschuldung: Staatsschulden sind umso eher möglich, je größer die nationale Sparquote bzw. je flacher die nationale Einkommensverteilung ausgeprägt wird. Auf jeden Fall aber werden Staatsschulden schon deshalb gebraucht, um bei konjunkturellen Einbrüchen den Rückgang von Steuern und Abgaben kompensieren zu können, damit wenigstens aufrecht erhaltene Staatsausgaben die konjunkturelle Entwicklung ,,automatisch stabilisieren". Allein wegen dieser Stabilisierungsfunktion ist die enge numerische Begrenzung der jährlichen staatlichen Neuverschuldung wie im Maastrichter Vertrag der Europäischen Union problematisch. Das Beispiel Deutschland zeigt ganz aktuell, dass die Maastrichter 3 vH-Obergrenze der Neuverschuldung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) für diese Stabilisatorenfunktion fast ausgeschöpft wird, also staatliche Ausgabenimpulse für eine Beschleunigung des Wachstums über seine Stabilisierung hinaus kaum möglich sind. Für eine solche Beschleunigung des Wachstums wie für dessen Stabilisierung auf einem höheren Niveau muss aber auch Verschuldungsspielraum bestehen. Das gilt vor allem dann, wenn es spürbare nationale Infrastrukturdefizite gibt ­ und freie gesamtwirtschaftliche Ressourcen ­, die kurzfristig über höhere Steuern und Abgaben nicht finanzierbar sind. Warum sollte Verschuldung nur als ,,korrekt" gelten für die Strategien von privaten Unternehmen, die damit neue Märkte erobern oder andere Firmen aufkaufen wollen? Für solche privaten Pläne werden mittlerweile von der öffentlichkeit enorme Verschuldungssummen akzeptiert oder gar nicht mehr wahrgenommen, obwohl die Unternehmensstrategien im einzelnen durchaus fragwürdig sein können ­ wie einige Unternehmensbeispiele drastisch zeigen. Der Staat muss aus entwicklungsstrategischen Gründen dieselben Verschuldungsmöglichkeiten haben, zumal seine Strategien bzw. seine Finanzierungsziele im Prinzip besser transparent zu machen und zu kontrollieren sind. Ein berühmter, aber leider vergessener deutscher Finanzwissenschaftler, Franz Stöpel, hat bereits im 19. Jahrhundert dazu gesagt: Ein Staat, der sich zu wenig verschuldet, sorgt nicht für die Zukunft seiner Gesellschaft vor.

6. Ausblick

Diese Elemente sind alle noch nicht einmal zufriedenstellend in der Europäischen Union erfüllt ­ weder früher noch erst recht heute. Die aktuell entgegenstehenden Tendenzen sind schon angesprochen worden: der Maastrichter Vertrag nicht nur mit der Begrenzung der Staatsverschuldung, die gestiegene Polarisierung der Einkommensverteilung einschließlich von Armut und anderen Formen des sozialen Ausschlusses, die Schiefe der Steuerlastverteilung sowie die Entwicklung zur Schedulen-Besteuerung und anderes mehr, - die alle das "Modell Europa" und dessen Leistungsfähigkeit verwässert haben. Aber selbst früher vor dem Import neoliberaler Elemente gab es wie gesagt kein perfektes Modell, schon gar nicht realisiert innerhalb eines einzigen europäischen Landes. Es ist oben schon angesprochen worden, dass es in mehreren EU-Ländern sogar bis heute einen fundamentalen sozialstaatlichen Nachholbedarf gibt, der auch wegen der heutigen neoliberalen Orientierung nicht wirksam befriedigt werden kann. Insofern ist es noch ein weiter Weg zum "Modell Europa" in einem optimalen Sinn, das nicht nur die überwindung der neoliberalen Phase voraussetzt, sondern auch das Beseitigen durchaus vorhandener nationalstaatlicher Probleme und vor allem das Lernen von europäischen Nachbarn, um dann daraus die besten Elemente zusammen zu bauen.7 Aber letztlich ist gar nicht sicher, ob in den EU-Ländern als Voraussetzung für ein optimiertes Modell Europa der neoliberale Weg überhaupt verlassen wird. Noch sind die neoliberalen Positionen stark (s. zuletzt Straubhaar 2002 für die wissenschaftliche Ebene) und eindeutige Stimmen schon jenseits von Zweifeln am neoliberalen Kurs noch selten (s. zuletzt für die politische Ebene die EU- Kommission 2001).8

Um wie viel schwerer muss es daher für andere Länder sein, sich an diesem "Modell Europa" zu orientieren, zumal sie noch stärker als einige europäische Staaten Widerstände bei bisher privilegierten Gruppen überwinden bzw. auch mehr Demokratie realisieren müssten. Tatsächlich bedarf es nach den europäischen Erfahrungen für eine gute Ausschöpfung der Harmonie zwischen sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz auch eines Katalysators, der Demokratie in der Politik einschließlich demokratischer Beteiligung in der Wirtschaft heißt. Hier aber liegt in der dritten Welt noch stärker als bei den Industrieländern ein Elitenproblem: Mächtige und Reiche sind weit häufiger identisch als anderswo, Macht ist oft gewalttätig und Reichtum ebenso oft Bereicherung. Selbst in "aufgeklärten" Diktaturen oder Quasi-Demokratien sorgen die Macht- und Geldeliten mehr für sich als für ihre Gesellschaft, drücken Löhne und unterdrücken Gewerkschaften, entziehen dem Land Ressourcen durch fragwürdige Kooperation mit multinationalen Unternehmen (dazu Werner/Weiss 2001), entziehen das verdiente Kapital durch Kapitalflucht ins Ausland, wollen keine Steuern zahlen usw.

Nicht zufällig sind gerade die Steuersystem in diesen Ländern schlecht entwickelt; es dominieren indirekte Steuern, die von der Masse getragen werden müssen und deshalb ihre Lasten nicht nur unsozial verteilen, sondern auch für den Infrastrukturbedarf zu unergiebig sind.10 Bezeichnenderweise ist auch die Beteiligung der Bevölkerung an der Wirtschaft minimal, sind Gewerkschaften nicht vorhanden oder Repression ausgesetzt, obwohl sie durch Lohnpolitik Armut bekämpfen und inländische Nachfrage fördern, obwohl sie durch Qualifizierung und durch Co- Management die nationale Produktivität heben könnten u.ä.

Das Elitenproblem ist sicherlich schwer zu lösen, schwierig von innen und noch schwieriger von außen. Aber "aufgeklärte" Eliten sollten angesichts der Harmonie von sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz Mut schöpfen und auch von außen ermutigt werden, andere Wege als bisher zu gehen. Das wird umso besser gelingen, wenn auch die erste Welt Diktaturen wirksam ächtet statt sie als "Rohstoff- öffner" zu benutzen, ihre multinationalen Unternehmen stärker durch soziale Mindeststandards zügelt, ihren weltweit operierenden Organisationen wie dem IWF neue Vorgaben macht, ihre Pflicht zur Entwicklungshilfe materieller wie immaterieller Art endlich ernst nimmt und vieles mehr.

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Aus: Argumente für eine Alternative zur neoliberalen "Eine-Welt-Politik" / Claus Schäfer




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